VII

 

Das wird übel!

Marcs Ausspruch würde das Motto des Abends werden, daran zweifelte ich keine Sekunde.

Der Aufzug war außer Betrieb. Zum einen fehlte Strom, zum anderen standen die Türen der Kabinen offen. Wir sahen durchtrennte Kabel, die wie tote Schlangen herabbaumelten.

»Hier spricht Deputy Marshal Lara Phönix!«, rief ich, als das Heulen verstummte. »Mein Partner und ich sind in einer offiziellen Angelegenheit hier. Wer sich uns in den Weg stellt, begeht eine Straftat. Wer uns angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden.«

Das laute Heulen bewies, dass ich mir meine Sprüche hätte sparen können. Sie wirkten nicht, als seien sie sonderlich beeindruckt.

Wir warteten, bis die Geräusche erneut abbrachen.

»Sag mal!«, wisperte Marc, »das ist doch komisch. Oder?«

»Was?«

»Ein Rudel besteht aus etwa 25 Werwölfen. Davon sind einige weiblich, einige männlich. Jedes Rudel hat zwei Anführer, ebenfalls einer weiblich, einer männlich.«

»Also sind hier mehrere Rudel vereint?«

Marc zuckte mit den Schultern. »Wenn, dann ist das die erste Multi-Rudel-Aktion der Geschichte. Oder zumindest der uns bekannten Geschichte, denn Rudel arbeiten nicht zusammen. Da gönnt einer dem anderen nicht die Butter auf dem Brot.«

Ein drittes Mal erklang das Heulen.

Diesmal kamen mir die Laute und auch deren Abfolge bekannt vor.

Ich schloss die Augen.

»Der will uns verarschen!« Ich sprang auf und lief zur Treppe. »Hier ist vielleicht ein Rudel, aber nicht mehr.« Wenn überhaupt.

»Wie meinst du das?«, fragte Marc überrascht.

»Hier sind garantiert nicht so viele Werwölfe, wie er uns glauben machen will.« Damit deutete ich die Treppe hinauf. »Ich gehe vor, du folgst. Mal sehen, was uns da oben wirklich erwartet.«

Damit startete ich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte ich die Stiegen hinauf. Dabei achtete ich auf jeden Laut, der mir von oben entgegendrang.

Das Heulen erklang erneut, und wieder folgte es exakt dem gleichen Schema. Eine Aufnahme. Verdammt …!

Die Treppe beschrieb eine Biegung. Exakt nach der Hälfte der Stufen knickte sie ab und führte zu der ersten Etage.

Ich sah den Werwolf auf der Lauer liegen. Er war verwandelt und lag dort wie ein beschissener Wachhund.

Er hatte mich vermutlich sehr viel früher gehört, denn er knurrte. Geifer troff von seinen Lefzen, seine Augen glühten gelb.

»Komm nicht auf die Idee, mich …«

Das Vieh sprang nicht nur in die Höhe, sondern wuchtete sich nach vorne. Es war voll verwandelt. Gut zwei Meter groß, muskulös und mit scharfen Krallen sowie noch schärferen Zähnen bewehrt.

Fasziniert sah ich der Kreatur entgegen, ehe ich abdrückte und zwei Kugeln in den Kopf des Viehs jagte. Ein Geschoss drang in die Stirn ein, blieb aber wahrscheinlich in dem harten Schädelknochen stecken. Das andere erwischte das Auge und drang von dort ins Hirn ein.

Die Wucht der Einschläge riss das Biest aus seiner Bahn, sodass es an mir vorbei die Treppe hinabpolterte.

Marc, der aufgepasst hatte, wich aus und schaute dem Wesen nach, das hinter und gegen die Wand prallte und dann im Knick der Treppe liegen blieb.

»Einer ist tot!«, rief ich hinauf. »Wir wollten Pérez. Sonst niemanden!«

Eindruck schindeten meine Worte nicht, denn hektische Schritte erklangen. Und die kamen nicht von Band.

Wir eilten weiter, ständig darauf gefasst, angegriffen zu werden.

»Wir müssen Stockwerk für Stockwerk untersuchen«, rief mir Mac zu. »Wer weiß, wo sich der Idiot versteckt.«

»Oben!« Damit deutete ich die Stufen hinauf. »Jede Wette, dass der ganz oben ist und unterwegs seine Helfer postiert hat?«

Schritte hallten im Treppenhaus wider. Ein Schemen jagte die Stiegen hinab, ehe ein nur halb verwandelter Werwolf erschien. Er sah uns und riss die Hände in die Höhe. »Nicht schießen. Bitte – ich ergebe mich. Ich will die ganze Scheiße doch nicht!«

»Welche Scheiße?«, fragte ich wütend. »Was wird hier eigentlich gespielt?«

Der Werwolf wurde vollends zu einem Mensch. Da er große Kleidung trug, war diese nicht gerissen.

»Es geht um Drogen!«, erklärte er. »Pérez will …«

Er schwieg überrascht, drehte den Kopf, um in die Höhe zu schauen – und stürzte nach vorne.

Aus seinem Nacken ragte ein langes Messer. Es musste seine Wirbelsäule durchtrennt haben – eine auch für Werwölfe tödliche Verletzung.

»Also Drogen.« Marc nickte. »Ich ahne, wie das läuft. Wahrscheinlich kam Pérez auf die Idee, den Drogenmarkt in New York City zu übernehmen. Ein neues Rudel, und seine Werwölfe als Handlanger. Die toten Dealer passen gut ins Bild. Er erledigt jene, die nicht für einen neuen Boss arbeiten wollen.«

Ich schaute vorsichtig die Stufen empor uns sah einen kompakten Schatten. Da lauert doch einer!

Leise schlich ich die Stufen hinauf. Dann aber ignorierte ich die Vorsicht. Wir hatten es mit Werwölfen zu tun und die verfügten über ähnlich gute Sinne wie Hunde.

Wer-Katzen wären mir lieber gewesen!

Ein tiefes Knurren erklang, je näher ich dem Schatten kam. Dann war der Werwolf auch schon da.

Aber nicht nur er griff mich an. »Waffe!«, rief ich nach unten, warf mich zur Seite und schon donnerte ein Schuss durch das Treppenhaus.

Hinter dem anstürmenden Gestaltwandler stand ein Mann mit einem Gewehr. Und der schien entschlossen, uns den Garaus zu machen.

Marc schoss mehrfach.

Die Kugeln erwischten den Lykanthrop und töteten ihn. Den Schützen sah er hingegen nicht.

Ich schon, und meine Position war ausgesprochen schlecht.

»Fahr zur Hölle, Cop!«

Die Mündung wies auf mich, sein Finger krümmte sich.

Nur eine Chance!

Mit dem Mut der Verzweiflung warf ich mich nach vorne, um den Schuss zu unterlaufen.

Der Knall dröhnte erneut durchs Treppenhaus, etwas streifte mich. Ein glühender Schmerz raste über meinen linken Handrücken. Ich schrie auf, drückte aber gleichzeitig ab. Mit nur einer Hand feuerte ich auf den Mann und schaffte es, ihn von den Beinen zu holen.

Zwar feuerte auch mein Gegner, doch die Kugel hieb in die Decke.

»Bist du verletzt?«, wollte Marc wissen. Er schloss zu mir auf. »Zeig mal her.«

Ich hob die Hand. »Ein elender Streifschuss. Scheiße, tut das weh!«

Er riss den unteren Saum seines Hemdes ab und wickelte es um die Wunde. Sie blutete, aber nicht sonderlich stark. Schlimmer waren die Partikel, die vermutlich in der Wunde steckten. Ruß, vielleicht Metall von der Kugel. Ich musste die Verletzung säubern lassen, aber dafür war nun keine Zeit.

Wir mussten weiter – kostete es, was es wollte.

 

*

 

Als wir das oberste Stockwerk erreichten, lagen neun tote Werwölfe im Treppenhaus. Einen hatten wir nicht getötet, die acht anderen schon.

Nur einer hatte uns einen harten Kampf geliefert, denn er war plötzlich aus größerer Höhe niedergesprungen, sodass wir nicht hatten feuern können. Völlig überrascht waren wir von ihm in einen Nahkampf gezwungen worden.

So sahen wir nun auch aus.

Vorsichtig gingen wir den Gang entlang. Auf jeder Etage lagen zehn Appartements – fünf pro Seite.

»Was ist das für ein elender Gestank?«, fragte Marc nach ein paar Sekunden. »Der ist widerlicher als das, was wir bislang gerochen haben.«

Ich schaute ihn an. Dieser Gestank kam mir sehr vertraut vor. Ich hatte ihn schon oft gerochen. Immer dann, wenn irgendwo Leichen lagen.

Dazu passten auch die Geräusche, die wir hörten. Sie erklangen hinter den geschlossenen Türen.

Das Summen von Insekten.

»Du rechts, ich links?«, fragte ich meinen Partner.

Er nickte und öffnete die Tür zur ersten, rechts gelegenen Wohnung.

Marc war nur wenige Schritte ins Innere gegangen, als ich seinen angewiderten Schrei hörte.

Ich ahnte, was er sah, denn bei mir war es nicht anders.

Leichen.

Frauen, die nackt und teils grausam zugerichtet auf dem Boden lagen, an manchen Körperstellen bedeckt mit Maden und Fliegen. Sie starrten mir aus leeren Augen entgegen, die Münder zu qualvollen Schreien geöffnet.

Vor allem zwischen ihren Beinen sahen sie furchtbar aus. Man hatte sie nicht nur vergewaltigt. Nein, hier waren Bestien über wehrlose, verwahrloste und verhärmte Frauen hergefallen, um sich an ihnen zu befriedigen.

Und dies auf mehr als nur eine Weise.

Die Pfeifchen und Spritzen, die überall in den Räumen lagen, ließen keine Zweifel aufkommen, dass es sich bei den Opfern um Crackhuren gehandelt hatte. Sie waren hierher gekommen, um sich Männern für ein paar Dollar anzubieten.

Orte wie diese gab es einige. Leer stehende Bauten, um die sich keiner mehr kümmerte. Penner und Junkies zogen ein, bald kamen die Frauen und jeder Typ in den ärmeren Gegenden wusste, wo man für einen Zehner seinen Spaß haben konnte.

Die Dealer hausten nicht weit entfernt oder sogar im gleichen Haus. Manche kassierten gleich bei den Freiern ab, die Frauen bekamen das Dope, aber keine Kohle.

Hier nun hatten die Werwölfe dafür gesorgt, dass diese Dienstleistungen eingefroren wurden. Sie hatten die Dealer getötet und mit den Huren ihren Spaß gehabt, ehe sie diese auch töteten.

Vermutlich sahen sie die Frauen als potenzielles Risiko, so lange sie ihre Geschäftsidee noch nicht vollends verwirklicht hatten.

»Ich will das Schwein in die Finger bekommen und ihm eine Kugel auf den Pelz brennen!«, grollte Marc. »Dieser perverse …«

Wir arbeiteten uns vor. Noch hatten wir Pérez nicht entdeckt. Wir waren aber sicher, dass er hier irgendwo sein musste.

»Wie kann er es bei diesem Gestank aushalten?«, fragte ich meinen Partner. »Seine Nase ist feiner als unsere.«

»Er ist ein Werwolf. Ihm gefällt dieser Gestank vielleicht. Außerdem wird er die Frauen nicht einfach so getötet haben. Gut möglich, dass er potenziellen Gegnern damit einen gehörigen Schrecken einjagt.«

»So wie uns?«, fragte ich sarkastisch.

Eine Antwort erhielt ich nicht, aber mir war auch so klar, warum uns Pérez hierher bestellt hatte.

Auch ich wollte ihn in die Finger bekommen …